Der Heilige Hieronymus (347-420) übersetzte die Bibel aus dem Altgriechischen ins Lateinische und schuf damit die Vulgata, die lange Zeit maßgebliche Bibelübersetzung der katholischen Kirche. Hieronymus ist also quasi der Urvater und darum der Schutzpatron der ÜbersetzerInnen. Sein Gedenktag ist der 30.9. – und darum feiern wir an diesem Tag den Internationalen Übersetzertag und nennen ihn „Hieronymustag“.
LiteraturübersetzerInnen in ganz Deutschland haben in den letzten Jahren immer wieder rund um diesen Tag meist in der Nähe ihres Wohnortes Veranstaltungen angeboten, bei denen sie einen Einblick in ihre Arbeit – und ihr Schattendasein – gewährten. Der Verein Weltlesebühne e. V., 2009 gegründet von LiteraturübersetzerInnen mit dem Ziel, die Arbeit dieses Berufsstandes sichtbarer zu machen, koordinierte 2015 zum zweiten Mal in Folge deutschlandweit an verschiedensten Veranstaltungsorten sowie weltweit in Goethe-Instituten sogenannte „Gläserne Übersetzer“. Bei diesem Veranstaltungsformat werden der Originaltext und alles, was auf dem Bildschirm der Übersetzerin passiert, für das Publikum lesbar entweder auf eine Leinwand projiziert oder auf einem großen Bildschirm dargestellt. So kann das Publikum der Übersetzerin live bei der Arbeit am Text zusehen, selbst Vorschläge machen und Fragen stellen.
2015 gab es Gläserne Übersetzer in Berlin, Flensburg, Frankfurt a. M., Freiburg, Hamburg, Heidelberg, Köln und Leipzig – sowie in Istanbul, Kiew, Krakau, Mexiko-Stadt, Minsk, Neapel, Rio de Janeiro, Sao Paulo, Sankt Petersburg und Tel Aviv.
Ich spielte in diesem Zusammenhang drei Rollen: Ich koordinierte die Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum, ich organisierte die Veranstaltung in Flensburg und ich trat in Flensburg selbst als Gläserne Übersetzerin auf.
Der Überlieferung zufolge soll der Heilige Hieronymus einem Löwen einen Dorn aus der Pranke gezogen haben. Der Löwe wurde darauf zahm und dem Heiligen Hieronymus ein treu ergebener Gefährte. Zu den Attributen des Heiligen Hieronymus gehört daher neben der von ihm übersetzten Bibel oft auch der Löwe.
Einen solchen (in Plüsch) hatte Gabriele Haefs eigens beschafft und zu der Hieronymus-Veranstaltung in der Stadtbibliothek Flensburg mitgebracht. „Vielleicht ist der Text, den ich übersetzen soll, der Löwe, und der Dorn, der in dessen Pranke steckt, das sind die Schwierigkeiten und Herausforderungen im Text“, dachte Gabriele Haefs laut nach. „Ich als Übersetzerin ziehe den Dorn aus dem Text und mache ihn zahm für den deutschen Leser.“
Die preisgekrönte Übersetzerin aus (unter anderem) dem Norwegischen eröffnete die vierstündige „Gläserne Übersetzerstaffel“ mit einem Text des Norwegers Ingvar Ambjörnsen, an dem sie aktuell arbeitete: Ut av ilden. Gabriele hat ihr Erlebnis dieses Auftritts hier sehr schön zusammengefasst.
Gabriele gab den Staffelstab (und den Löwen) an mich weiter. Ich hatte einen Text mitgebracht, an dem ich vor einem Jahr gearbeitet hatte, und der zwei Wochen vor dem Hieronymustag bei Piper erschienen war: Sara Blædels Dødesporet (Der Pfad des Todes).
Ich hatte eine Textstelle ausgesucht, die ein bisschen Recherche in Sachen nordische Mythologie erforderte: Ist „Goden“ ein Eigenname? Wie heißen die nordischen Götter auf Deutsch? Welche Eigenschaften werden ihnen (im deutschen Sprachgebrauch) zugeschrieben? Wenn im Dänischen steht, dass Odin „der höchste aller Götter ist“ – könnte ich ihn dann im Deutschen als „Göttervater“ bezeichnen? Ich führte vor, auf welchen Internetseiten ich mit welcher Suchstrategie vorgehe.
Doch auch auf sprachlicher Ebene taten sich erstaunlich viele Fragen auf, z. B.: Wie viele Konjunktive verträgt ein Satz in einem Unterhaltungsroman? Muss der Junge die Spitze des Trinkhorns „zu seinem Bauch“ drehen oder reicht auch „zu sich“? Es ergaben sich viele interessante Fragen und Gespräche, sowohl zum Text als auch zum Übersetzerberuf und zur Arbeitsweise. Am Ende meiner Stunde las ich den Abschnitt, an dem wir gemeinsam gebastelt hatten, aus der frisch erschienenen Übersetzung vor – das war für das Publikum, aber auch für mich, ein kleines Aha-Erlebnis.
Ich gab Staffelstab und Löwen an Peter Robert weiter, der einen britischen Science-Fiction-Text (Al Robertson, Crashing Heaven) vorstellte – und seine sich von Gabriele Haefs‘ und meiner deutlich unterscheidende Arbeitsweise: Peter Robert arbeitet mit Spracherkennung, d. h. er spricht seine Rohübersetzung in ein Mikrofon, und Software lässt auf dem Bildschirm den Text erscheinen, wo er ihn später in einem zweiten Durchgang überarbeitet. Auch mit ihm kam das Publikum, nachdem er das Headset wieder abgelegt hatte, lebhaft ins Gespräch.
Peter Robert gab Staffelstab und Löwen an Anja Lehmann weiter, eine an der FH Flensburg angestellte Fachübersetzerin für juristische und Marketingtexte ins Englische. An ihren Beispielen – eine Studienordnung sowie eine Broschüre, mit der im Ausland für die FH Flensburg geworben werden soll – wurden zum einen ganz andere Problemstellungen deutlich, zum anderen aber auch einige Gemeinsamkeiten, will sagen für das Übersetzen ganz allgemein gültige Grundsätze. Und so bildete Anja Lehmanns Auftritt „außer der (literarischen) Reihe“ nach vier Stunden einen auch für „uns LiteraturübersetzerInnen“ sehr interessanten Abschluss.
Publikum, Stadtbibliothek und ÜbersetzerInnen waren sehr zufrieden bis beseelt von der schönen Veranstaltung, sodass die Planung für den Hieronymustag 2016 in der Stadtbibliothek Flensburg bereits läuft.
Sollten Sie sich eine Veranstaltung in Ihrer Nähe wünschen und bereits einen geeigneten Veranstaltungsort vorschlagen können, nehmen Sie gerne Kontakt zu mir auf!