Von Büchern und Menschen …
Aus meiner eigenen Berufserfahrung kann ich sagen, dass ich nur sehr wenig Einfluss darauf hatte, welche Bücher mir zur Übersetzung angeboten wurden. Ich habe mir ein Netzwerk aufgebaut, und über dieses Netzwerk kamen die ersten Übersetzungsaufträge zu mir: Mit dem, was heute „Love and Landscape“ genannt wird, fing es an (Marcia Willett), mit „ChickLit“ ging es lange weiter (Jenny Colgan, Sophie Kinsella etc.) Während der ChickLit-Phase bot mir die Goldmann-Lektorin auch mal alternativ einen Erfahrungsbericht einer krebskranken Frau an. Damals versuchte ich, in meinem Leben mit zwei Kleinkindern mit schwerer Mehrfachbehinderung zurechtzukommen und nicht den Verstand zu verlieren. Ich fand mein eigenes Leben belastend genug und wollte doch lieber mit humorvoller Unterhaltung weitermachen.
Seither ist das Genre „SickLit“ entstanden und zu meinen Projekten hinzugekommen. Prominente Beispiele für dieses Genre, bei dem es immer um einen (tod)kranken Protagonisten und seine mitmenschlichen Beziehungen geht, sind Jojo Moyes (Ein ganzes halbes Jahr) und John Greene (Das Schicksal ist ein mieser Verräter). Aus meinem Portfolio kann ich vor allem Rowan Coleman nennen, durch die ich u. a. mit früh einsetzendem Alzheimer (Einfach unvergesslich), Kindesmissbrauch (Wolken wegschieben), häuslicher Gewalt (Im siebten Sommer), Vergewaltigung (Beim Leben meiner Mutter) sowie Krebs, Mukoviszidose und PTBS (Zwanzig Zeilen Liebe) konfrontiert wurde. Immer wieder mal schickte ich einen Stoßseufzer ins Universum: „Gut, dass ich das nicht in meinem eigenen Leben habe!“
Und dann landete Marie Benedicts The Other Einstein auf meinem Tisch. Das war erfreulich, weil die Übersetzunganfrage von der wunderbaren Mona Lang beim wunderbaren Verlag Kiepenheuer & Witsch kam, aber auch, weil ich sehr gerne mal ein schönes Buch über eine reale starke Frau übersetzen wollte. Und als ich reinlas, war die Sache bereits auf der ersten Seite für mich geritzt: Albert Einsteins erste Frau Mileva Marić wurde von Eltern und Freunden „Mitza“ gerufen. Dieser Spitzname lag so nah an meinem eigenen, dass ich mir sicher war, dass dieses Projekt und ich zusammengehörten.
Da The Other Einstein die Romanbiografie einer historischen Persönlichkeit ist, wollte ich mich der Figur zunächst durch die Lektüre von Sekundärliteratur (Liste s. u.) annähern. Und in deren Verlauf wurde mir dann irgendwann ganz anders … Denn so erfuhr ich, bevor ich überhaupt mit dem Übersetzen anfing, dass Mileva Marić und Albert Einstein eine Tochter hatten, Lieserl. Und dass diese Tochter – so das Ergebnis einer umfangreichen Untersuchung der US-Amerikanerin Michele Zackheim – im Kleinkindalter an Scharlach verstarb. Und womöglich zumindest geistig behindert gewesen war.
WHOOOOSH.
Da saß ich nun also und hatte einen Übersetzungsvertrag unterschrieben für ein Buch, in dem es durchaus nicht nur nebenbei um den Verlust eines Kleinkindes (mit Behinderung) geht – um eine existenzielle Erfahrung, die ich selbst bereits gemacht hatte.
Der Tod meines jüngsten Sohnes lag da zwar schon zwölf Jahre zurück, aber Lieserls Geschichte erreichte mich zu einem Zeitpunkt, als das ganze Thema gerade wieder sehr präsent war … und sie erwischte mich kalt.
Der Verlag bot mir an, vom Vertrag zurückzutreten.
Ich dachte eine Weile nach.
Dann beschloss ich, es zu wagen. Laut Marie Benedict stammte die Grundidee zur Relativitätstheorie (für die Albert Einstein weltberühmt wurde) in Wirklichkeit von Mileva Marić, und der diese Theorie begründende Aufsatz „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“ (angeblich von Albert Einstein verfasst) war ihre Hommage an ihre verstorbene Tochter. Und auf einmal fand ich, konnte doch die Übersetzung dieses Buches so etwas wie meine Hommage an meinen verstorbenen Sohn sein.
The Other Einstein begleitete mich dann eine ganze Weile. Im Herbst 2016 durfte ich mit dem Text an der Berliner Übersetzerwerkstatt im Literarischen Colloquium teilnehmen – wo Mona Lang und ich uns 2013 bei einem Seminar kennengelernt hatten. (Das übrigens von Jürgen Dormagen geleitet wurde, der dann wiederum bei der Übersetzerwerkstatt mein Mentor für dieses Projekt war.) Es war gut, dass ich ohne Druck an dem Text arbeiten konnte, dass ich mal pausieren konnte – obwohl ich ja auch immer wieder feststelle, dass das Übersetzen etwas von einem Blick durchs Mikroskop hat, der das große Ganze in den Hintergrund treten lässt. Ich glaube, ich habe noch nie beim Übersetzen geweint – wohl aber vorher beim Lesen des Originals und/oder hinterher beim Lesen meiner Übersetzung. Die Arbeit am Text steht vollkommen im Zentrum, und im Falle dieses Textes ging es dabei in recht großem Umfang um die Überprüfung von Fakten (Geographie, Architektur, historische Persönlichkeiten etc.), um das Durchschauen von physikalischen Versuchsanordnungen und Hypothesen, um die Anpassung eines von einer US-Amerikanerin für ein US-amerikanisches Publikum geschriebenen, in Europa spielenden Textes an ein deutschsprachiges, europakundiges Lesepublikum sowie um die „Patina“ der Zeit Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.
Und doch ist Frau Einstein am Ende wohl meine bisher persönlichste Übersetzung. Bei persönlicher Betroffenheit kann der Schuss natürlich leicht nach hinten losgehen und zu einem missglückten Endergebnis führen, aber das Lob aus dem Lektorat bei Kiepenheuer & Witsch war dick und fett, und darum hoffe ich nun natürlich auch auf viele zufriedene LeserInnen.
Wie gesagt, viel Einfluss habe ich eigentlich nicht darauf, welche Bücher mir angeboten werden. – Aber bei einigen bin ich mir sicher, dass da das Universum die Finger im Spiel hat …
Marie Benedict
Frau Einstein
Kiepenheuer & Witsch
€ 20,00 [D], € 20,60 [A]
Erschienen am 15.02.2018
368 Seiten, gebunden mit SU
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger
ISBN: 978-3-462-04981-7
Eine Besprechung von Doris Hermanns finden Sie hier.
Sekundärliteratur, die mir beim Herantasten half:
- Bürki, Barbara: Schöne und bittere Tage – Mileva Einstein-Maric. Bern: Albert Einstein-Gesellschaft, 2007.
- Fölsing, Ulla: Nobel-Frauen. Naturwissenschaftlerinnen im Porträt. München: C. H. Beck, 1990. S. 138-145.
- Kilt-Meyer, Anne-Kathrin: Wie sich Mileva Einstein Alberts Nobelpreisgeld sicherte. München: Elisabeth Sandmann Verlag, 2015.
- M., Olga: MILEVA MARIĆ-EINSTEIN – Von grossen Hoffnungen und ihrer Tragik. Deutsch von Dagmar Kuhn. Tesla Society Schweiz, 2008.
- Weissensteiner, Friedrich: Die Frauen der Genies. Wien-Frankfurt/M.: Deuticke, 2001. S. 133-167.
- Zackheim, Michele: Einsteins Tochter. List Verlag, 1999.
Sowie die Primärtexte aus Albert Einsteins und Mileva Marićs eigener Feder:
- Am Sonntag küss‘ ich dich mündlich. Die Liebesbriefe 1897-1903. Herausgegeben von Jürgen Renn. München: Piper, 1994.
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