Grenzerfahrung 2020

Bundesrepublik Deutschland, Land Schleswig-Holstein, Kreis Nordfriesland, Königreich Dänemark, Reichspolizei, Bundesgrenzschutz … Da fällt es niemandem leicht, den Überblick zu behalten.

Er sollte so groß gefeiert werden, der 100. Geburtstag der Grenzziehung. Die einen wollten die „Wiedervereinigung“ bejubeln, die anderen die „Abtretung“ bedauern, aber sehr viele wollten auch ein Zeichen setzen für die heute zumindest im Grenzgebiet äußerst lebendige deutsch-dänische Freundschaft. Und dann das: ein Virus macht all dem einen dicken, fetten Strich durch die Rechnung, und auf einmal müssen sich die Menschen in Tønder und Niebüll, in Aabenraa und Flensburg wieder fragen, auf welcher Seite sie stehen. Plötzlich müssen erwachsene Kinder ihre betagten Eltern in puncto Alltagshilfe im Stich lassen, müssen Mütter sich entscheiden zwischen ihren Kindern und ihrem neuen Partner. Von einem Tag auf den anderen. Ohne Ausnahmeregelung, ohne Pardon.

Seit dem 13. März war die Ansage von dänischer Seite sehr klar: Ab dem 14. März dürfen keine Ausländer mehr nach Dänemark einreisen, es sei denn, ihre Berufstätigkeit erfordert es oder es gibt einen anderen triftigen Grund. Seit dem 16. März galt dieselbe Ansage für die Einreise nach Deutschland. 

Wie damit umgehen, wenn das eigene Leben völlig natürlich in einem Radius von 50 km stattfindet, dieser Radius aber durch die Grenzschließung halbiert wird? 

Die Konstellation: Deutscher Staatsbürger mit Wohnsitz in Nordfriesland und Berufstätigkeit in Deutschland, seit mehreren Jahren in einer festen Beziehung mit einer Doppelstaatlerin (deutsch/dänisch) mit Wohnsitz in Tønder und freiberuflicher Tätigkeit in Deutschland und Dänemark. 

Damit war eins schon mal klar: Der Nordfriese wird vorläufig nicht ins Königreich hineingelassen. Und was ist mit der Doppelstaatlerin?„Staatsbürger dürfen immer in ihr Land einreisen“, heißt es von einigen Seiten. Bingo! Freie Fahrt in beide Richtungen! Denkste. Die Regeln ändern sich seit Mitte März mindestens wöchentlich … Der Wunsch, den Liebsten in Nordfriesland weiter zu sehen – nicht täglich, aber doch zumindest am Wochenende – gerät zum Spießrutenlauf. Bei jeder Einreise nach Deutschland gelten neue Regeln, mal ist sie durch jede berufliche Tätigkeit legitimiert, dann werden nur noch systemrelevante Berufstätigkeiten akzeptiert; mal reicht die deutsche Staatsbürgerschaft aus, dann wieder ist fester Wohnsitz im Bundesgebiet gefragt; mal gilt der Besuch des Lebensgefährten als triftiger Grund, dann wieder gilt das eben nicht; das Land Schleswig-Holstein gestattet Ausnahmen für den Besuch des nicht unter demselben Dach wohnenden Lebensgefährten, der Kreis Nordfriesland stellt eine Sondergenehmigung aus – aber die Bundesbeamten an der Grenze sagen wieder etwas anderes … Bei jeder Einreise nach Deutschland banges Zittern, ob es klappt, bei jedem Abschied vom Liebsten Ungewissheit, wann es ein Wiedersehen geben wird … 

Die Wieder-Einreisen nach Dänemark waren jedes Mal vollkommen unproblematisch. Dänisches Kennzeichen, dänischer Pass – keine weiteren Fragen.

Endlich, nach über fünf Wochen, melden sich dann mal die Minderheitenvertreter beiderseits der Grenze zu Wort (wäre das nicht ihre primäre Aufgabe von Anfang an gewesen?), appellieren an Christiansborg und Kiel/Berlin, die Grenzschließung zu lockern, wenigstens für in der Region Ansässige mit engen (quasi-)familiären Verbindungen auf der jeweils anderen Seite der Grenze. Ein Hin und Her, ein Ja und Nein, und am Ende dann doch endlich ein Ja.

Und so folgte Dänemark letzte Woche dem Beispiel Schleswig-Holsteins und erklärte nach fast sechs Wochen den Besuch des Lebenspartners zu einem von mehreren privaten Anliegen, die nun als „triftige Gründe“ betrachtet werden. Hurra! Große Frage: Wie soll das kontrolliert bzw. belegt werden?

Versuch macht klug: Der Nordfriese näherte sich am Freitagnachmittag gut gerüstet dem Grenzübergang zwischen Süderlügum und Tønder. In Reichweite auf dem Beifahrersitz: a) sein Pass, b) ein Schreiben vom Kreis Nordfriesland (die Sondergenehmigung, seine nicht unter demselben Dach lebende Partnerin zu besuchen und damit Befreiung von der Quarantänepflicht), c) das Handy mit einem Foto vom „sygesikringsbevis“ der Doppelstaatlerin sowie d) einem Foto von deren Visitenkarte inkl. Telefonnummer (es hieß, die Grenzbeamten würden vielleicht Kontrollanrufe vornehmen), e) Fotoalben mit Glücksfotos, die die Liebste dem Nordfriesen zu den letzten Jahrestagen geschenkt hat (falls es weiterer Dokumentation bedurfte). In Tønder wurde darauf geachtet, dass das Handy Strom hatte und auf Empfang war.

Was dann passierte, war reichlich unspektakulär.

Der Nordfriese ließ bei der Einreise nach Dänemark die Scheibe herunter und zeigte seinen Pass. Der wurde sofort vom Grenzbeamten fotografiert. Auf die Frage nach dem Grund seiner Einreise sagte der Nordfriese, er wolle seine Partnerin besuchen: „Jetzt, wo das endlich wieder möglich ist.“ Darauf die Frage nach dem Namen der Partnerin und ihrem Wohnort. Und dann: „Gute Fahrt!“ Das war’s.

Die Rück-Einreise nach Deutschland am Sonntag war ähnlich unspektakulär. Deutsches Kennzeichen, deutscher Pass, das ist ja schon mehr als die halbe Miete. Kurze Frage, wie lange der Aufenthalt in Dänemark war, und da die Antwort „weniger als 48 Stunden“ bedeutete, freie Weiterfahrt. Bei mehr als 48 Stunden hätte wohl die Sondergenehmigung vom Kreis vorgelegt werden müssen. Aber das ist Spekulation.

Im Schatten von Corona: Nach sechs Wochen endlich wieder ein gemeinsamer Spaziergang nördlich der Grenze

„Was man unter Wasser sehen kann“ von Henriette Dyckerhoff

Im Juni mit der Autorin Henriette Dyckerhoff bei der BücherFrauen-Sommerakademie auf Sylt gewesen. Kaum von dort zurückgekehrt, im Online-Katalog unserer Bücherei nachgesehen, ob es das Buch dort gibt, und kaum war es endlich eingetroffen (es war frisch bestellt), gleich unter den Nagel gerissen.

Binnen zehn Tagen gelesen. (Das heißt für meine Verhältnisse, dass ich es verschlungen habe. ?)
Auf den ersten Seiten (Schauplatz Berlin) war ich noch nicht überzeugt, da fehlte mir irgendwas. Aber je weiter ich dann las, desto mehr packte es mich, und ganz viel hat mir supergut gefallen – unter anderem die Dialoge. Sehr lebendig und witzig (z. B. „Meine Mutter und mein Vater hatten was miteinander.“ – „Das ist ja mal ungewöhnlich.“). Dezent als mundartlich oder umgangssprachlich markierte Figurenrede. Schöne, fast schon weise Sätze … („In Ronnebach bestand man einfach zu 95% aus Vergangenheit.“ – „Zwischen Leben und Tod lagen 30 m Bodenlosigkeit.“ u. ä.)
Zwischendurch kam tatsächlich dieses „Mist! Was lese ich, wenn ich mit diesem fertig bin?!?“-Gefühl auf.
Am Ende werden nicht alle Rätsel gelöst, und das ist gut so. Die eine Lösung zeichnet sich zwar zunehmend ab, erschließt sich aber erst bei der konkreten Beschreibung in seiner Komplexität. Vergangenheit und Gegenwart werden sehr schön miteinander verwoben.
Ein runder, gelungener Roman!
Ungeklärt blieben für mich die legendenhaften Passagen am Anfang eines jeden Teils und ganz zum Schluss … Die konnte ich nicht recht einordnen.
Und: Als sehr großer Fan von Was man von hier aus sehen kann von Mariana Leky finde ich den Titel ziemlich blöd. Ich verstehe die Überlegungen des Verlags (man will sich an einen anderen Erfolgstitel anlehnen, ist ja auch durchaus thematisch vergleichbar), aber ich frage mich, an welcher Stelle (außer in einem Traum) irgendetwas unter Wasser vor sich geht, das den Titel inhaltlich rechtfertigen würde …
Jedenfalls wandert das Buch jetzt sofort weiter an die nächste Leserin. Und ich habe der Leiterin unserer kleinen, feinen deutschen Bücherei in Tondern vorgeschlagen, die Autorin mal zu einer Lesung einzuladen. ?

Henriette Dyckerhoff
Was man unter Wasser sehen kann
Roman
Gebunden mit Schutzumschlag, 320 Seiten
Rütten & Loening
978-3-352-00924-2  
20,00 € *)Inkl. 7% MwSt.

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„Ungeschliffener Diamant“ von Alice Pung

Dieses Buch ist schon ein bisschen älter … Das Original Unpolished Gem erschien bereits 2006 in Australien. Ein deutscher Verlag kaufte die Rechte, ich übersetzte es 2009, der Verlag verschob es von einem Programm ins nächste und beschloss letztlich, es doch nicht zu veröffentlichen … „Ungeschliffener Diamant“ von Alice Pung weiterlesen

Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder …?

Zwanzig Jahre ist mein ältester Sohn jetzt alt. Mit dreizehn habe ich ihn losgelassen – er zog in ein Wohnheim für Kinder und Jugendliche mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Da war er gut aufgehoben, da konnte er Teenager sein. Als er achtzehn wurde, musste er umziehen in eine betreute Wohnanlage für Erwachsene mit mehrfachen Behinderungen. Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder …? weiterlesen

MERIAN Kopenhagen

Das Schöne am Übersetzen aus dem Dänischen ist ja, dass vieles in greifbarer Nähe ist – die AutorInnen zum Beispiel, aber auch die Schauplätze. Und dass der dänische Staat sich die Kulturförderung einiges kosten lässt. Zum Beispiel, indem regelmäßig ÜbersetzerInnen aus dem Dänischen aus der ganzen Welt nach Dänemark eingeladen werden. Wir werden regelrecht hofiert und als BotschafterInnen des Dänischen in der Welt behandelt. MERIAN Kopenhagen weiterlesen

Gemeinsam sind wir einzig

Über zwei Jahre sind vergangen, seit zuletzt eine Übersetzung von mir aus dem Dänischen erschienen ist. Und ungefähr zwei Jahre hat es von der Anfrage bis zum Erscheinen gedauert – damit gehört Gemeinsam sind wir einzig zu den eher gemütlichen Projekten der letzten Jahre. Gemeinsam sind wir einzig weiterlesen

Ein besonderes Buch: Birgit Vanderbekes „Wer dann noch lachen kann“

Ich arbeite ja doch sehr regelmäßig für den Piper-Verlag, und hin und wieder lasse ich mir auch mal ein Buch aus dem Piper-Programm schicken. Oder bitte auf der Messe darum, eins mitnehmen zu dürfen.  Dieses Jahr hatte ich ein Auge auf Mareike Krügels Sieh mich an geworfen, aber da das Treffen mit meiner Piper-Lektorin gar nicht am Messestand stattfand, sondern bei einer gemeinsamen Mittagspause, verließ ich die Messe nach zweieinhalb prall gefüllten Fachbesuchertagen ohne Piper-Buch in der Tasche. Ein besonderes Buch: Birgit Vanderbekes „Wer dann noch lachen kann“ weiterlesen